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    Drusentor von unten, 2021
    Dietmar Walser, Hohenems

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    Dietmar Walser, Hohenems

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    Ernst Eisenmayer und sein Cousin Hans Reisz nach dem Grenzübertritt unterhalb des Drusentors, September 1938
    Sammlung Ernst Eisenmayer, Jüdisches Museum Hohenems



47    Ernst Eisenmayer> September 1938


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47 Ernst Eisenmayer

Ernst Eisenmayer hat es fast geschafft, doch die Schweizer Polizei schickt ihn zurück
Drusentor, September 1938

„Zwei meiner jüdischen Schulkameraden hatten es rechtzeitig in die Schweiz geschafft, bevor die Schweizer die Grenzen für uns praktisch schlossen. Doch wir gerieten in eine verzweifelte Lage. Einige unserer Nazi-Schulkameraden hatten uns gewarnt, als wären Warnungen notwendig gewesen, dass sich unsere Situation mit Sicherheit weiter verschlechtern würde. Also begannen wir über die Möglichkeiten, das Land zu verlassen, nachzudenken. Wir klapperten eine Botschaft nach der anderen ab, Vertreter von Ländern der ganzen Welt. Die Antwort lautete immer gleich: NEIN. Kein Geld, keine „ordentlichen“ Papiere, was hatten wir schon zu erwarten? […]

Ich war in Kontakt geblieben mit den beiden Freunden, die es nach Zürich geschafft hatten. Sie schlugen vor, ich solle den Weg über ein ziemlich schwieriges Gebirge an der Grenze, das Rhätikon, wagen um in die Schweiz zu gelangen. Es klang nach einer guten Idee. Wir hatten ohnehin nichts zu verlieren, zumindest dachten wir das, also versuchten wir zu zweit „Ihnen“ zu entkommen.“[1] 

Gemeinsam mit einem gleichaltrigen Verwandten, einem entfernten Cousin namens Hans Reisz, plant der siebzehnjährige Ernst Eisenmayer in Wien im Spätsommer 1938 seine Flucht. Sie würden sich als Wanderer ausgeben.

Viele Jahre später schreibt Ernst Eisenmayer in England seine Erinnerungen nieder. Manches darin gibt Rätsel auf. Erinnerungen sind kein verlässlicher Freund. Wie sie ihr Ziel erreichten ist unklar.

„Wir fuhren die ganze Nacht durch in den Westen Österreichs, doch wir stiegen rechtzeitig vor der Grenze aus dem Zug um den Verdacht nicht auf uns zu ziehen. Wir waren ja umgeben von Polizisten und Uniformierten. Man könnte es fast farbenprächtig nennen. Anschließend setzten wir uns in einen Linienbus in ein Tal hinein, wo wir in einem kleinen Gasthaus über Nacht blieben. In einem Dorf prangten Fahnen über der Straße, sie wirkten beinahe gebieterisch: „Juden sind hier nicht erwünscht“. Wir mussten es trotzdem versuchen.“

Eine Busfahrkarte dieser Reise hat Eisenmayer behalten, doch die zeigt als Ziel Galtür. Einen ganz Tag seien sie gewandert, hinüber in ein anderes Tal, dann die Nacht im Freien verbracht. Am frühen Morgen brechen sie wieder auf. Seine dramatische Schilderung macht aus der Flucht ein spannendes Abenteuer.

„Das Tageslicht reichte gerade um die Karte zu lesen um die Lage des Terrains zu überprüfen. Meine geringfügige Bergsteiger-Erfahrung kam uns zu Gute. Mein Cousin war nämlich noch nie höher als tausend Meter, das ist die Höhe eines Berges nahe Wien, gestiegen. Er war auch nicht von der sportlichen Sorte. Wir waren immer noch unter der Baumgrenze und ich hatte mir eine Route zur Grenze ausgedacht. Wir hatten bereits ausgemacht, dass wir unsere „Schweizer“ Freunde an der Südseite der Sulzfluh treffen würden. Alle Details waren schon auf dem Postweg vereinbart worden, an diesem Tag sollte der Plan nun Wirklichkeit werden. Gefährlich aussehende Felswände wurden eben von den ersten Sonnenstrahlen erhellt. Es war atemberaubend anzusehen, und der Gedanke an den Anstieg vor uns raubte uns auch wirklich den Atem.

„Müssen wir da drüber?“ fragte mein Cousin ein wenig keuchend als wir uns dem Gletscher näherten.

„Ja, genau da. Und unsere Freunde werden uns auf der anderen Seite erwarten!“ antwortete ich, um sowohl ihn als auch mich selbst zu ermutigen, ohne auch nur einmal an Umkehr zu denken. Obwohl ich langsam erkannte, dass unser Vorhaben alles andere als einfach sein würde.“

Auf der anderen Seite des Drusentors treffen sie, so schreibt Eisenmayer, tatsächlich auf die Freunde. Ein Foto zeigt die beiden Flüchtlinge bei einer Rast, die Sulzfluh von Süden gesehen im Hintergrund. Doch Eisenmayers Fluchtgeschichte ist damit nicht zu Ende. Am Bahnhof unten im Tal werden sie von der Polizei angehalten. Statt den Zug nach Zürich besteigen zu können, werden sie verhört – und schließlich zurück ins Deutsche Reich abgeschoben. Und zurück nach Wien geschickt. Noch einmal wagt Eisenmayer einige Wochen später einen Fluchtversuch, über die Grenze nach Frankreich. Und findet sich nach dem Novemberpogrom in Dachau wieder, so wie tausende jüdische Männer, die ins KZ deportiert werden, um ihre Ausreise zu erzwingen.
Ein englisches Visum ermöglicht Eisenmayer schließlich doch noch die Emigration nach England – wo er den Krieg in fünf verschiedenen Internierungslagern verbringt. Eisenmayer studiert schließlich Kunst und wird als Maler und Bildhauer tätig. Nach Jahren In England, Italien und Amsterdam kehrte er schließlich zeitweise auch nach Wien zurück, wo er 2018, 97-jährig, verstarb.


[1] Ernst Eisenmayer, A Strange Haircut. Amstedram 2008. Auszüge erschienen in Übersetzung unter dem Titel „Sie werden Euch kein einziges Haar krümmen. Schweiz im September 1938“, in: Edith Hessenberger (Hg.), Grenzüberschreitungen. Von Schmugglern, Schleppern, Flüchtlingen. Schruns 2008, S. 137-146.

 


Busfahrscheine von Ernst Eisenmayer aus dem Jahr 1938, Landeck-Galtür
Aus: Hast Du meine Alpen gesehen. Eine Jüdische Beziehungsgeschichte. Hg. von Hanno Loewy und Gerhard Milchram. Hohenems 2009

 



Ernst Eisenmayer, Alpenansicht
Aus: Hast Du meine Alpen gesehen. Eine jüdische Beziehungsgeschichte. Hg. von Hanno Loewy und Gerhard Milchram, Hohenems 2009
 
 


Ernst Eisenmayer (mitte) mit einer seiner Skulpturen in seiner Ausstellung im Jüdischen Museum Wien, 2002 
Foto: David Peters, Jüdisches Museum Wien

47 Ernst Eisenmayer

Ernst Eisenmayer hat es fast geschafft, doch die Schweizer Polizei schickt ihn zurück
Drusentor, September 1938

„Zwei meiner jüdischen Schulkameraden hatten es rechtzeitig in die Schweiz geschafft, bevor die Schweizer die Grenzen für uns praktisch schlossen. Doch wir gerieten in eine verzweifelte Lage. Einige unserer Nazi-Schulkameraden hatten uns gewarnt, als wären Warnungen notwendig gewesen, dass sich unsere Situation mit Sicherheit weiter verschlechtern würde. Also begannen wir über die Möglichkeiten, das Land zu verlassen, nachzudenken. Wir klapperten eine Botschaft nach der anderen ab, Vertreter von Ländern der ganzen Welt. Die Antwort lautete immer gleich: NEIN. Kein Geld, keine „ordentlichen“ Papiere, was hatten wir schon zu erwarten? […]

Ich war in Kontakt geblieben mit den beiden Freunden, die es nach Zürich geschafft hatten. Sie schlugen vor, ich solle den Weg über ein ziemlich schwieriges Gebirge an der Grenze, das Rhätikon, wagen um in die Schweiz zu gelangen. Es klang nach einer guten Idee. Wir hatten ohnehin nichts zu verlieren, zumindest dachten wir das, also versuchten wir zu zweit „Ihnen“ zu entkommen.“[1] 

Gemeinsam mit einem gleichaltrigen Verwandten, einem entfernten Cousin namens Hans Reisz, plant der siebzehnjährige Ernst Eisenmayer in Wien im Spätsommer 1938 seine Flucht. Sie würden sich als Wanderer ausgeben.

Viele Jahre später schreibt Ernst Eisenmayer in England seine Erinnerungen nieder. Manches darin gibt Rätsel auf. Erinnerungen sind kein verlässlicher Freund. Wie sie ihr Ziel erreichten ist unklar.

„Wir fuhren die ganze Nacht durch in den Westen Österreichs, doch wir stiegen rechtzeitig vor der Grenze aus dem Zug um den Verdacht nicht auf uns zu ziehen. Wir waren ja umgeben von Polizisten und Uniformierten. Man könnte es fast farbenprächtig nennen. Anschließend setzten wir uns in einen Linienbus in ein Tal hinein, wo wir in einem kleinen Gasthaus über Nacht blieben. In einem Dorf prangten Fahnen über der Straße, sie wirkten beinahe gebieterisch: „Juden sind hier nicht erwünscht“. Wir mussten es trotzdem versuchen.“

Eine Busfahrkarte dieser Reise hat Eisenmayer behalten, doch die zeigt als Ziel Galtür. Einen ganz Tag seien sie gewandert, hinüber in ein anderes Tal, dann die Nacht im Freien verbracht. Am frühen Morgen brechen sie wieder auf. Seine dramatische Schilderung macht aus der Flucht ein spannendes Abenteuer.

„Das Tageslicht reichte gerade um die Karte zu lesen um die Lage des Terrains zu überprüfen. Meine geringfügige Bergsteiger-Erfahrung kam uns zu Gute. Mein Cousin war nämlich noch nie höher als tausend Meter, das ist die Höhe eines Berges nahe Wien, gestiegen. Er war auch nicht von der sportlichen Sorte. Wir waren immer noch unter der Baumgrenze und ich hatte mir eine Route zur Grenze ausgedacht. Wir hatten bereits ausgemacht, dass wir unsere „Schweizer“ Freunde an der Südseite der Sulzfluh treffen würden. Alle Details waren schon auf dem Postweg vereinbart worden, an diesem Tag sollte der Plan nun Wirklichkeit werden. Gefährlich aussehende Felswände wurden eben von den ersten Sonnenstrahlen erhellt. Es war atemberaubend anzusehen, und der Gedanke an den Anstieg vor uns raubte uns auch wirklich den Atem.

„Müssen wir da drüber?“ fragte mein Cousin ein wenig keuchend als wir uns dem Gletscher näherten.

„Ja, genau da. Und unsere Freunde werden uns auf der anderen Seite erwarten!“ antwortete ich, um sowohl ihn als auch mich selbst zu ermutigen, ohne auch nur einmal an Umkehr zu denken. Obwohl ich langsam erkannte, dass unser Vorhaben alles andere als einfach sein würde.“

Auf der anderen Seite des Drusentors treffen sie, so schreibt Eisenmayer, tatsächlich auf die Freunde. Ein Foto zeigt die beiden Flüchtlinge bei einer Rast, die Sulzfluh von Süden gesehen im Hintergrund. Doch Eisenmayers Fluchtgeschichte ist damit nicht zu Ende. Am Bahnhof unten im Tal werden sie von der Polizei angehalten. Statt den Zug nach Zürich besteigen zu können, werden sie verhört – und schließlich zurück ins Deutsche Reich abgeschoben. Und zurück nach Wien geschickt. Noch einmal wagt Eisenmayer einige Wochen später einen Fluchtversuch, über die Grenze nach Frankreich. Und findet sich nach dem Novemberpogrom in Dachau wieder, so wie tausende jüdische Männer, die ins KZ deportiert werden, um ihre Ausreise zu erzwingen.
Ein englisches Visum ermöglicht Eisenmayer schließlich doch noch die Emigration nach England – wo er den Krieg in fünf verschiedenen Internierungslagern verbringt. Eisenmayer studiert schließlich Kunst und wird als Maler und Bildhauer tätig. Nach Jahren In England, Italien und Amsterdam kehrte er schließlich zeitweise auch nach Wien zurück, wo er 2018, 97-jährig, verstarb.


[1] Ernst Eisenmayer, A Strange Haircut. Amstedram 2008. Auszüge erschienen in Übersetzung unter dem Titel „Sie werden Euch kein einziges Haar krümmen. Schweiz im September 1938“, in: Edith Hessenberger (Hg.), Grenzüberschreitungen. Von Schmugglern, Schleppern, Flüchtlingen. Schruns 2008, S. 137-146.

 


Busfahrscheine von Ernst Eisenmayer aus dem Jahr 1938, Landeck-Galtür
Aus: Hast Du meine Alpen gesehen. Eine Jüdische Beziehungsgeschichte. Hg. von Hanno Loewy und Gerhard Milchram. Hohenems 2009

 



Ernst Eisenmayer, Alpenansicht
Aus: Hast Du meine Alpen gesehen. Eine jüdische Beziehungsgeschichte. Hg. von Hanno Loewy und Gerhard Milchram, Hohenems 2009
 
 


Ernst Eisenmayer (mitte) mit einer seiner Skulpturen in seiner Ausstellung im Jüdischen Museum Wien, 2002 
Foto: David Peters, Jüdisches Museum Wien

Kurzbiografien der genannten Personen

Ernst Eisenmayer geboren 18.9.1920 in Wien, gestorben 27.3.2018 in Wien. 1938 versuchte Eisenmayer zweimal vergeblich aus Nazi-Österreich zu fliehen, einmal über die Berge im Montafon, einmal nach Frankreich. Im November 1938 wurde er nach Dachau deportiert und emigrierte nach seiner Freilassung im Januar 1939 nach England, wo er in verschiedene Internierungslager gebracht wurde. Später studierte er Kunst, arbeite als Werkzeugmacher und lebte bis 1975 in England, dann in Italien und Amsterdam, bevor er 1996 nach Wien zurückkehrte.