Über die >Grenze
back button
  • slideshow
    Zollamt Feldkirch Tisis, 2021
    Dietmar Walser, Hohenems

  • slideshow
    Flüchtlingsandrang an der Grenze in Schaanwald, 3. Mai 1945
    Foto: Baron Eduard von Falz-Fein Vaduz, Liechtensteinisches Landesarchiv B 413/003/047

  • slideshow
    Fürstin Gina im Gespräch mit den Leitern des Flüchtlingslagers, 4. Mai 1945
    Foto: Baron Eduard von Falz-Fein Vaduz, Liechtensteinisches Landesarchiv B 413/001/019

  • slideshow
    KZ-Häftlinge aus Dachau auf dem Lastwagen an der Grenze in Schaanwald Schweizer Grenzwächtern, Mai 1945
    Liechtensteinisches Landesarchiv, B 413/005/006

  • slideshow
    KZ-Häftlinge aus Dachau bei Schaanwald schauen vom Lastwagen in die Kamera, Mai 1945
    Liechtensteinisches Landesarchiv, B 413/005/001



38    Kriegsende> 25. April - 2. Mai 1945


Text einblenden:


38 Kriegsende

Die letzten Kriegstage: Massenansturm an der Liechtensteiner Grenze
Tisis-Schaanwald, Nofels-Oberfresch, 25. April bis 2. Mai 1945 

In den letzten Tagen des Krieges versuchen tausende in Vorarlberg festgehaltene „Fremdarbeiter“, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter zu fliehen, oder werden abgeschoben, um sie loszuwerden. Am 22. April sperrt der schweizerische Bundesrat die Ostgrenze. Nur noch zwei Übergänge bleiben geöffnet. Neben St. Margrethen wird nun der Grenzübergang von Feldkirch nach Liechtenstein zwischen Tisis und Schaanwald zum Nadelöhr für die Menschen, die im Chaos der letzten Kriegstage versuchen in Sicherheit zu kommen. 

Zwischen dem 25. April und dem 2. Mai überschreiten alleine hier 7.370 Menschen die Grenze, darunter 3.424 Franzosen, 1.234 Russen, 759 Polen, an die 300 Niederländer und einige Griechen und Italiener. Aber auch 156 Schweizer und 123 Liechtensteiner flüchten vor den nahenden Kriegshandlungen.
Unter den Flüchtenden befinden sich auch zehn KZ-Überlebende, die sich bei einem „Todesmarsch“ von Dachau nach Salzburg mit Hilfe eines SS-Offiziers absetzen konnten und zu Fuß bis nach Feldkirch gekommen waren.
[1] Am meisten Menschen, fast 3000, kommen am 2. Mai an die Liechtensteiner Grenze. An diesem Tag kämpfen sich französische Einheiten, die am Tag zuvor Bregenz eingenommen haben, durch Hohenems und Götzis in Richtung Feldkirch vor.

Am Grenzübergang Tisis stauen sich Menschenmassen, die die Absperrungen durchbrechen und nun vor den Schweizer Grenzwächtern stehen. Doch die beharren auf Kontrollen. Den Grenzübertritt versuchen auch unerwünschte Personen, Mitglieder der Vichy Regierung und Vorarlberger Nationalsozialisten, in deren Autos größere Vermögenswerte vermutet werden.[2]

Die kurzfristige Betreuung von tausenden von Flüchtlingen ist Neuland für das Fürstentum Liechtenstein. In den Jahren zuvor hat die Regierung nur wenigen Menschen Asyl gewährt. Einige jüdische Flüchtlinge aus dem deutschen Reich waren aufgenommen worden, wenn sie über genügend Geldmittel verfügten und die Schaffung von Arbeitsplätzen durch ihre wirtschaftlichen Aktivitäten garantierten. Außerdem hatte das Fürstentum einigen verfolgten Juden, die aus dem deutschen Reich in andere Länder zu fliehen versuchten, gegen Bezahlung Pässe ausgestellt. Allerdings nur unter der Bedingung, keinesfalls davon in dem Sinne Gebrauch zu machen, selbst nach Liechtenstein emigrieren zu wollen.
Spontane Unterstützung gab es durch einzelne Liechtensteiner, wie zum Beispiel Ida Fehr in Mauren. Aber auch durch organisierte Fluchthelfer in Feldkirch und Liechtenstein, zum Beispiel um den jungen Taxichauffeur Hubert Ritter. Sie ermöglichten 1938 und 39 einer Reihe von jüdischen Flüchtlingen, durch Liechtenstein hindurch in die Schweiz zu gelangen. Manche von ihnen wurden von der Kantonspolizei in Buchs aufgegriffen und ins Deutsche Reich zurückgeschickt.[3]

Aber nun, am Ende des Krieges, überschlagen sich die Ereignisse, und die Bilder von helfenden Pfadfindern und der an die Grenze eilenden Fürstin Gina prägen sich ins Gedächtnis ein. Tausende von Flüchtlingen müssen versorgt werden.
In der Nacht vom 2. auf den 3. Mai kommt es auch am kleinen Grenzposten Oberfresch zwischen Nofels und Schellenberg noch einmal zu einem Massenansturm. Es sind Angehörige der sogenannten „Russischen Nationalarmee“ die unter dem Befehl der deutschen Wehrmacht gegen die Sowjetunion kämpfte – und sich nun vor den Alliierten in Sicherheit bringen wollen. In den letzten Kriegstagen erreichen die Überreste dieser Armee, ein Tross von 494 Menschen, darunter auch 33 Frauen und 2 Kinder, die Grenze bei Nofels. Sie fürchten, zwangsweise in die Sowjetunion zurückgeschickt zu werden.

Paul Keel, damals Grenzwächter an diesem Posten, erinnert sich 1995 daran:

„Und da ist 1945 im Mai ist hier ein Tor gewesen, mit Stacheldraht und in der Nacht, wo die Russen gekommen sind, ungefähr 23.30, hat man ihnen das Tor aufgemacht und dann sind sie heraufgelaufen, Richtung Schellenberg. Sie hatten Ross und Wagen, Kinder und Fremde noch dabei gehabt, die nicht zur eigentlichen Truppe gehört haben, unter dem General Holmston. […]

Zwei von unseren Kameraden haben da Wache gehalten, und als die Russen hergefahren sind, die ersten mit Autos, die hinteren sind zu Fuß gekommen, haben die – auf Halterufe haben sie nicht reagiert, und dann hat der Korporal Morff hat dann auf den ersten Wagen einen Schuss abgefeuert. Dann haben sie still gehalten, und der Adjutant ist ausgestiegen und hat gesagt ‚bitte nicht schießen, im nächsten Wagen sitzt der General‘. Aufgrund dessen hat man dann das Feuer eingestellt und der ganze Tross ist nachher weitergegangen bis hinauf, kurz nach dem Löwen, haben sie dann ihre Waffen abgegeben.“[4]

Die Russen werden zunächst in Liechtenstein interniert. Doch die fürstliche Regierung will sie möglichst rasch loswerden. Und von Seiten der Sowjetunion wird Druck ausgeübt. Die Mehrzahl der Russen geht im Sommer tatsächlich in die Sowjetunion zurück, zum Teil über die Zwischenstation französischer Internierung in Vorarlberg. Eine sowjetische Repatriierungskommission macht ihnen Zusicherungen. Doch die meisten werden in ihrer Heimat in Straflager geschickt.

Etwa 130 von ihnen, darunter auch ihr General, Graf Boris Smyslovsky, alias Arthur Holmston, weigern sich erfolgreich und werden schließlich auch nicht ausgeliefert. Sie emigrieren in andere westliche Länder, vor allem nach Argentinien.[5]

Leseempfehlung:
Ursina Jud, Liechtenstein und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus. Vaduz-Zürich 2005.


[1] Dazu erschien im April 2022 ein Dokumentarfilm der Gesellschaft Israel-Schweiz, der die Geschichte der neun KZ-Überlebenden (der Zehnte verstarb auf dem Weg in die Freiheit) von Dachau über die Flucht nach Liechtenstein bis zur Internierung in der Schweiz und der Reise via Barcelona nach Palästina darlegt.

[2] Siehe Ursina Jud, Liechtenstein und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus. Vaduz-Zürich 2005, S. 118f.

[3] Jud, S. 120-128.

[4] Interview mit Paul Keel, Fernsehdokumentation von Manfred Schlapp, ORF 1995.



Überlebende Häftlinge aus Dachau bei der Ankunft in Mauren, Mai 1945
Liechtensteinisches Landesarchiv, B_413_005_004




Internierte Angehörige der "Russischen Nationalarmee" beim Wäschewaschen bei Ruggell
Liechtensteinisches Landesarchiv, B 413_002_088



Abschied von 250 internierten Angehörigen der "Russischen Nationalarmee" am Bahnhof Buchs, August 1945
Liechtensteinisches Landesarchiv, B 413_002_101

38 Kriegsende

Die letzten Kriegstage: Massenansturm an der Liechtensteiner Grenze
Tisis-Schaanwald, Nofels-Oberfresch, 25. April bis 2. Mai 1945 

In den letzten Tagen des Krieges versuchen tausende in Vorarlberg festgehaltene „Fremdarbeiter“, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter zu fliehen, oder werden abgeschoben, um sie loszuwerden. Am 22. April sperrt der schweizerische Bundesrat die Ostgrenze. Nur noch zwei Übergänge bleiben geöffnet. Neben St. Margrethen wird nun der Grenzübergang von Feldkirch nach Liechtenstein zwischen Tisis und Schaanwald zum Nadelöhr für die Menschen, die im Chaos der letzten Kriegstage versuchen in Sicherheit zu kommen. 

Zwischen dem 25. April und dem 2. Mai überschreiten alleine hier 7.370 Menschen die Grenze, darunter 3.424 Franzosen, 1.234 Russen, 759 Polen, an die 300 Niederländer und einige Griechen und Italiener. Aber auch 156 Schweizer und 123 Liechtensteiner flüchten vor den nahenden Kriegshandlungen.
Unter den Flüchtenden befinden sich auch zehn KZ-Überlebende, die sich bei einem „Todesmarsch“ von Dachau nach Salzburg mit Hilfe eines SS-Offiziers absetzen konnten und zu Fuß bis nach Feldkirch gekommen waren.[1] Am meisten Menschen, fast 3000, kommen am 2. Mai an die Liechtensteiner Grenze. An diesem Tag kämpfen sich französische Einheiten, die am Tag zuvor Bregenz eingenommen haben, durch Hohenems und Götzis in Richtung Feldkirch vor.

Am Grenzübergang Tisis stauen sich Menschenmassen, die die Absperrungen durchbrechen und nun vor den Schweizer Grenzwächtern stehen. Doch die beharren auf Kontrollen. Den Grenzübertritt versuchen auch unerwünschte Personen, Mitglieder der Vichy Regierung und Vorarlberger Nationalsozialisten, in deren Autos größere Vermögenswerte vermutet werden.[2]

Die kurzfristige Betreuung von tausenden von Flüchtlingen ist Neuland für das Fürstentum Liechtenstein. In den Jahren zuvor hat die Regierung nur wenigen Menschen Asyl gewährt. Einige jüdische Flüchtlinge aus dem deutschen Reich waren aufgenommen worden, wenn sie über genügend Geldmittel verfügten und die Schaffung von Arbeitsplätzen durch ihre wirtschaftlichen Aktivitäten garantierten. Außerdem hatte das Fürstentum einigen verfolgten Juden, die aus dem deutschen Reich in andere Länder zu fliehen versuchten, gegen Bezahlung Pässe ausgestellt. Allerdings nur unter der Bedingung, keinesfalls davon in dem Sinne Gebrauch zu machen, selbst nach Liechtenstein emigrieren zu wollen.
Spontane Unterstützung gab es durch einzelne Liechtensteiner, wie zum Beispiel Ida Fehr in Mauren. Aber auch durch organisierte Fluchthelfer in Feldkirch und Liechtenstein, zum Beispiel um den jungen Taxichauffeur Hubert Ritter. Sie ermöglichten 1938 und 39 einer Reihe von jüdischen Flüchtlingen, durch Liechtenstein hindurch in die Schweiz zu gelangen. Manche von ihnen wurden von der Kantonspolizei in Buchs aufgegriffen und ins Deutsche Reich zurückgeschickt.[3]

Aber nun, am Ende des Krieges, überschlagen sich die Ereignisse, und die Bilder von helfenden Pfadfindern und der an die Grenze eilenden Fürstin Gina prägen sich ins Gedächtnis ein. Tausende von Flüchtlingen müssen versorgt werden.
In der Nacht vom 2. auf den 3. Mai kommt es auch am kleinen Grenzposten Oberfresch zwischen Nofels und Schellenberg noch einmal zu einem Massenansturm. Es sind Angehörige der sogenannten „Russischen Nationalarmee“ die unter dem Befehl der deutschen Wehrmacht gegen die Sowjetunion kämpfte – und sich nun vor den Alliierten in Sicherheit bringen wollen. In den letzten Kriegstagen erreichen die Überreste dieser Armee, ein Tross von 494 Menschen, darunter auch 33 Frauen und 2 Kinder, die Grenze bei Nofels. Sie fürchten, zwangsweise in die Sowjetunion zurückgeschickt zu werden.

Paul Keel, damals Grenzwächter an diesem Posten, erinnert sich 1995 daran:

„Und da ist 1945 im Mai ist hier ein Tor gewesen, mit Stacheldraht und in der Nacht, wo die Russen gekommen sind, ungefähr 23.30, hat man ihnen das Tor aufgemacht und dann sind sie heraufgelaufen, Richtung Schellenberg. Sie hatten Ross und Wagen, Kinder und Fremde noch dabei gehabt, die nicht zur eigentlichen Truppe gehört haben, unter dem General Holmston. […]

Zwei von unseren Kameraden haben da Wache gehalten, und als die Russen hergefahren sind, die ersten mit Autos, die hinteren sind zu Fuß gekommen, haben die – auf Halterufe haben sie nicht reagiert, und dann hat der Korporal Morff hat dann auf den ersten Wagen einen Schuss abgefeuert. Dann haben sie still gehalten, und der Adjutant ist ausgestiegen und hat gesagt ‚bitte nicht schießen, im nächsten Wagen sitzt der General‘. Aufgrund dessen hat man dann das Feuer eingestellt und der ganze Tross ist nachher weitergegangen bis hinauf, kurz nach dem Löwen, haben sie dann ihre Waffen abgegeben.“[4]

Die Russen werden zunächst in Liechtenstein interniert. Doch die fürstliche Regierung will sie möglichst rasch loswerden. Und von Seiten der Sowjetunion wird Druck ausgeübt. Die Mehrzahl der Russen geht im Sommer tatsächlich in die Sowjetunion zurück, zum Teil über die Zwischenstation französischer Internierung in Vorarlberg. Eine sowjetische Repatriierungskommission macht ihnen Zusicherungen. Doch die meisten werden in ihrer Heimat in Straflager geschickt.

Etwa 130 von ihnen, darunter auch ihr General, Graf Boris Smyslovsky, alias Arthur Holmston, weigern sich erfolgreich und werden schließlich auch nicht ausgeliefert. Sie emigrieren in andere westliche Länder, vor allem nach Argentinien.[5]

Leseempfehlung:
Ursina Jud, Liechtenstein und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus. Vaduz-Zürich 2005.


[1] Dazu erschien im April 2022 ein Dokumentarfilm der Gesellschaft Israel-Schweiz, der die Geschichte der neun KZ-Überlebenden (der Zehnte verstarb auf dem Weg in die Freiheit) von Dachau über die Flucht nach Liechtenstein bis zur Internierung in der Schweiz und der Reise via Barcelona nach Palästina darlegt.

[2] Siehe Ursina Jud, Liechtenstein und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus. Vaduz-Zürich 2005, S. 118f.

[3] Jud, S. 120-128.

[4] Interview mit Paul Keel, Fernsehdokumentation von Manfred Schlapp, ORF 1995.



Überlebende Häftlinge aus Dachau bei der Ankunft in Mauren, Mai 1945
Liechtensteinisches Landesarchiv, B_413_005_004




Internierte Angehörige der "Russischen Nationalarmee" beim Wäschewaschen bei Ruggell
Liechtensteinisches Landesarchiv, B 413_002_088



Abschied von 250 internierten Angehörigen der "Russischen Nationalarmee" am Bahnhof Buchs, August 1945
Liechtensteinisches Landesarchiv, B 413_002_101

Kurzbiografien der genannten Personen

Ida Fehr geboren um 1887 in Liechtenstein, Todesdatum unbekannt. Im Haus der Witwe Ida Fehr in Mauren in Liechtenstein, unmittelbar an der Grenze zu Vorarlberg, kamen 1938 zahlreiche jüdische Flüchtlinge unter, als Zwischenstation auf ihrem Weg durch Liechtenstein in die Schweiz. Im November 1938 erhielt sie von der Liechtensteiner Regierung eine „scharfe Verwarnung“ und Strafandrohung.

Hubert Ritter geboren 4.8.1912 in Mauren, gestorben 23.1.1981 in Mauren. Der junge Taxichauffeur in Mauren, unmittelbar an der Grenze zu Vorarlberg, war 1938 und 1939 immer wieder an Fluchthilfe für bedrohte Jüdinnen und Juden beteiligt – so wie der Feldkircher Taxifahrer Karl Rummer oder der Chauffeur Gebhard Lorenz und die Ruggeller Rudolf Öhri und Theodor Heeb und verschiedene Bauern auf beiden Seiten der Grenze. Treffpunkt war nicht zuletzt das Gasthaus Ochsen in Feldkirch, dessen Kellner Paul Geier als Mittelsmann fungierte.